“Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.” (Fundraising-Weisheit #10)

Die­se Fund­rai­sing- und Mar­ke­ting­weis­heit wird immer wah­rer. Eigent­lich müss­te man inzwi­schen for­mu­lie­ren: „Ein Video sagt mehr als 7 Mil­lio­nen Wor­te.“ Wor­an liegt das genau? Wel­che Aus­wir­kun­gen hat das für das Fundraising?

Lese­dau­er 6 Minu­ten
 

Zwei Anek­do­ten aus mei­ner Arbeit der ver­gan­ge­nen 18 Monate:

Ein Groß­spen­der, mit dem ich schon län­ger zusam­men­ar­bei­te, bat mich um Infor­ma­tio­nen über ein Pro­jekt. Ich schick­te ihm per E‑Mail ein Kurz­ex­pośe. Dabei fiel mir eine Video­bro­schü­re für Groß­spen­der vom UNHCR (s.u.) ein, die mir beim IFC 2019 in die Hän­de gefal­len war.

Video: Video­bro­schü­re für Großspender:innen des UNHCR (Carp 2019)

Kur­zer­hand füg­te ich am Ende der E‑Mail den Link zu einem kur­zen Film­bei­trag über unser Pro­jekt ein. „Viel­leicht wol­len Sie sich mit­tels des Vide­os einen ers­ten Ein­blick ver­schaf­fen.“, schrieb ich.

Nor­ma­ler­wei­se dau­er­te es rund 14 Tage, bis das Büro unse­res Spen­ders mich anrief oder ich dort nach­fra­gen konn­te. Die­ses Mal erhielt ich nach nicht ein­mal 24 Stun­den einen Anruf: „Ich habe mir das Video ange­guckt. Das Pro­jekt ist gut. Das machen wir.“

Im Som­mer schrieb ich dann einen För­der­an­trag an eine gro­ße Stif­tung in unse­rer Regi­on. Noch hat­ten wir nicht zusam­men­ge­ar­bei­tet. Der Antrag war form­los, ein Anschrei­ben, ein zwei­sei­ti­ges Expo­sé, Finanz­plan, ein Bau­plan und ein Pres­se­spie­gel. Es ging dar­um, das Außen­ge­län­de einer Kin­der­ta­ges­stät­te in einem sozi­al schwa­chen Stadt­teil neu zu gestal­ten. Uns fehl­ten rund 9.000 Euro. In das Expo­sé füg­te ich einen Link zu einem Fern­seh­bei­trag über die Kita ein, der beschrieb, wie die Kin­der in das Pro­jekt ein­be­zo­gen wurden.

Beim Orts­ter­min sag­te die Mit­ar­bei­te­rin der Stif­tung, dass der Antrag gut struk­tu­riert war und sie durch den Film­bei­trag einen tol­len ers­ten Ein­druck von der Arbeit der Kita bekom­men habe. Auch die­se För­de­rung haben wir erhalten.

One picture is worth a thousand words.“

Die­ser Satz geht auf Fre­de­rick Bar­nard zurück, einen Wer­be­fach­mann der Chi­ca­go­er „Street Rail­ways Adver­ti­sing Com­pa­ny“. 1921 stell­te er in einem Bran­chen­blatt sei­ne Idee vor, Wer­bung mit Bil­dern auf Stra­ßen­bah­nen zu plat­zie­ren. Er war der Auf­fas­sung, dass die­se viel schnel­ler ver­stan­den wür­de als rein text­ori­en­tier­te Wer­bung (Früh­beis 2017). Eine Erfah­rung und Ein­sicht, die seit­dem auch im Fund­rai­sing gilt. Bil­der trans­por­tie­ren Emo­tio­nen und die Dring­lich­keit von Situa­tio­nen beson­ders gut. Doch war­um ist das so?

Bilder sind Sinnverdichter und Symbole

Visu­el­le Bil­der ver­dich­ten Infor­ma­tio­nen. Es bedarf unzäh­li­ger Wor­te, um ein Bild zu beschrei­ben, sei es ein sur­rea­les Gemäl­de von Miró, sei es ein Por­trait von Max Beck­mann oder eine Foto­gra­fie von Hel­mut New­ton. Und bei der Betrach­tung von Bil­dern gilt das Glei­che, was der Ansatz der rea­der respon­se cri­ti­cism für Tex­te for­mu­lier­te: Leser:Innen bzw. Betrachter:Innen neh­men das Werk vor dem Hin­ter­grund ihrer Erfah­run­gen und Gefüh­le wahr und inter­pre­tie­ren es ent­spre­chend. Damit ist jede Beschrei­bung eines Bilds abhän­gig von der beschrei­ben­den Person.

Bil­der sind somit für sym­bo­li­sche Inter­pre­ta­tio­nen offen, wel­che über das objek­tiv Sicht­ba­re hin­aus ver­wei­sen. Sie erzeu­gen einen Sinn­über­schuss, der sich sprach­lich nicht voll­stän­dig fas­sen lässt. Das gilt glei­cher­ma­ßen für Fil­me wie für Einzelaufnahmen.

Bilder werden schneller und direkter erfasst

Unser Gehirn nimmt ein Bild und sei­ne Details in der unfass­ba­ren Geschwin­dig­keit von 70 bis 150 Mil­li­se­kun­den auf (Gegen­furt­ner, Wal­ter, Braun 2002). Zudem erin­nern wir Bil­der beson­ders ein­fach. All­an Pai­vio for­mu­lier­te 1971 die dual-coding theo­ry. Er hat­te in Expe­ri­men­ten den sog. pic­tu­re supe­rio­ri­ty effect beob­ach­tet, wonach Bil­der leich­ter erin­nert wer­den als Wör­ter. Sei­ne dual-coding theo­ry besagt, dass Bil­der kon­kre­ter Din­ge men­tal sowohl visu­ell als auch ver­bal codiert und in der Fol­ge leich­ter erin­nert wer­den. Wor­te hin­ge­gen sei­en ledig­lich ver­bal codiert (Wiki­pe­dia 2020). 

Die Erfas­sung und Inter­pre­ta­ti­on von Schrift­spra­che, das Lesen, ist gegen­über dem Erken­nen eines Bil­des für das Gehirn ein wesent­lich auf­wen­di­ge­rer kogni­ti­ver Pro­zess. Es ist kei­ne natür­li­che, son­dern eine kul­tu­rel­le und erlern­te Fer­tig­keit. Zunächst müs­sen Gra­feme erkannt und zu Wor­ten geformt wer­den. Erst dann wer­den sie inhalt­lich ana­ly­siert und mit gespei­cher­tem Wis­sen abge­gli­chen (Sin­ger und Mül­ler-Jung 2018).

Wenn es also um die Kom­mu­ni­ka­ti­on von kon­kre­ten Din­gen geht, gelingt dies mit Bil­dern bzw. im Zusam­men­spiel mit Bil­dern bes­ser. Intel­lek­tu­ell dif­fe­ren­zier­te Kon­zep­te und Zusam­men­hän­ge hin­ge­gen, z.B. phi­lo­so­phi­sche Ideen, sind auf ver­ba­le Aus­drucks­for­men angewiesen.

Bilder wecken Emotionen

Bil­der von Per­so­nen und ande­ren Lebe­we­sen spre­chen Spie­gel­neu­ro­nen an und damit auf unbe­wuss­te Wei­se unser Emp­fin­den. „Spie­gel­neu­ro­nen sind ein Reso­nanz­sys­tem im Gehirn, das Gefüh­le und Stim­mun­gen ande­rer Men­schen beim Emp­fän­ger zum Erklin­gen bringt. […] Wir wer­den mit dem Gefühl des ande­ren ‚ange­steckt‘, das heißt unse­re Spie­gel­neu­ro­nen reagie­ren nicht nur, wenn wir selbst Leid, Schmerz oder Freu­de erfah­ren, son­dern die­se Ner­ven­zel­len wer­den auch dann aktiv, wenn wir die­se Emp­fin­dun­gen bei jemand ande­rem wahr­neh­men.“ Spie­gel­neu­ro­nen wer­den daher in Zusam­men­hang mit der Fähig­keit zur Empa­thie gebracht (Kauf­mann 2018).

Das alles zusam­men­ge­nom­men erklärt, wes­halb Bil­der und visu­el­le Ein­drü­cke wirk­mäch­ti­ger sind als Schrift oder Ton. Sie trans­por­tie­ren nicht nur ver­dich­te­te Infor­ma­tio­nen, son­dern spre­chen unse­re Emo­tio­nen unmit­tel­bar an.

Im visuellen Zeitalter

Wäh­rend die­se kogni­ti­ven Vor­gän­ge grund­sätz­lich zur mensch­li­chen Grund­aus­stat­tung gehö­ren, haben sich die kul­tu­rel­len Fähig­kei­ten der Bil­d­er­zeu­gung und ‑ver­brei­tung in den letz­ten Jahr­zehn­ten dra­ma­tisch ver­än­dert. Wir befin­den uns im visu­el­len Zeit­al­ter, das der His­to­ri­ker Ger­hard Paul bereits mit der Erfin­dung der Foto­gra­fie und des Films begin­nen lässt (Paul 2016, 10). Mit der Digi­ta­li­sie­rung erreicht es sei­nen aktu­el­len Höhe­punkt. Bil­der sind prak­tisch für jeden welt­weit ver­füg­bar und teil­bar gewor­den (Paul und Gram­pes 2016).

Nun ist es nicht so, dass Bil­der Tex­te im visu­el­len Zeit­al­ter voll­kom­men abge­löst hät­ten. Jedoch haben sie die Vor­rang­po­si­ti­on in der Kom­mu­ni­ka­ti­on über­nom­men und sind zum all­täg­li­chen Leit­me­di­um gewor­den (Paul 2016, 10). „Das Guten­berg­zeit­al­ter“ (McLu­han) ist zuen­de. Es mag para­dox anmu­ten, doch in der digi­ta­len Bil­der­flut hat etwa das Foto auf Insta­gram die Ver­gäng­lich­keit über­nom­men, die bis­lang nur dem gespro­che­nen Wort eigen war. So schnell es gepos­tet wird, ist es wie­der unter all den neu­en Auf­nah­men unsicht­bar gewor­den (van den Berg, Söff­ner und Paul 2020).

Sicht­bar­keit ist die har­te Wäh­rung in der Auf­merk­sam­keits­ge­sell­schaft. Und das trifft glei­cher­ma­ßen für Indi­vi­du­en wie Orga­ni­sa­tio­nen zu. Für den visu­al man – den moder­nen Bil­der­men­schen – ist nach Ger­hard Paul die eigent­li­che Rea­li­tät die sicht­ba­re, wenn­gleich es wei­ter­hin eine außer­pik­to­ra­le Wirk­lich­keit gibt (Paul 2016, 743). Der visu­al man bewegt sich in der Welt des Visu­el­len mit immer grö­ße­rer Selbst­ver­ständ­lich­keit, trifft dort Ent­schei­dun­gen, kom­mu­ni­ziert, ori­en­tiert sich und drückt sich dort als Pro­du­zent von Bil­dern aus (Paul 2016, 741). 

COVID-19 – Treiber für das Video im Fundraising

Ein Bild sagt mehr als 1.000 Wor­te.“ Die­se Fund­rai­sing- und Mar­ke­ting­weis­heit wird – falls man das so sagen mag – immer wah­rer. Eigent­lich müss­te man sogar for­mu­lie­ren: „Ein Video sagt mehr als 7 Mil­lio­nen Wor­te.“ [1]

Denn nach­dem es zunächst für jeden Men­schen mög­lich wur­de, digi­ta­le Fotos in allen Lebens­la­gen zu erstel­len und welt­weit zu ver­brei­ten, ist dies inzwi­schen mit Vide­os glei­cher­ma­ßen mög­lich. „Unter den drei täg­li­chen Nut­zungs­dau­ern für Video, Audio und Text liegt das Sehen von Vide­os (55 Minu­ten) knapp vor dem Hören von Audi­os (51 Minu­ten) und deut­lich vor dem Lesen von Tex­ten (17 Minu­ten).“ Die­ses Ergeb­nis der ARD/ZDF-Online­stu­die 2020 über­rascht eigent­lich nicht mehr (ARD/ZDF-For­schungs­kom­mis­si­on 2020).

Die Coro­na-Epi­de­mie hat die­se Ent­wick­lung sicher­lich ver­stärkt und beschleu­nigt. In Erman­ge­lung von per­sön­li­chen Kon­tak­ten erleb­ten Video­kon­fe­ren­zen, Webi­na­re und Live­streams ein bis dahin nicht gekann­tes Wachs­tum. In der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Spender:innen wur­de Video wäh­rend der Epi­de­mie zuneh­mend ein­ge­setzt.

Vor Weih­nach­ten tausch­te ich mich per Video­kon­fe­renz mit Kolleg:Innen dar­über aus, wie die Pan­de­mie unse­re Arbeit ver­än­dert hat. Immer wie­der wur­den Video­for­ma­te genannt. Da gab es cross­me­dia­le Absa­gen zu Som­mer­fes­ten in Form von Direct Mai­lings mit ver­link­ten Video­an­spra­chen. Es gab vir­tu­el­le Live­füh­run­gen durch Ein­rich­tun­gen, Online-Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen mit Spender:innen. Ande­re erzähl­ten von Video­clips über Pro­jek­te, die an aktu­el­le oder poten­ti­el­le Unterstützer:innen ver­schickt wurden.

Video ist ins Fundraising gekommen, um zu bleiben

Einig waren wir uns, dass die per­sön­li­che Begeg­nung durch nichts zu erset­zen ist. Besu­che, Tage der offe­nen Türen, Spen­der­es­sen etc. wer­den wir – wenn es wie­der mög­lich ist – wei­ter­hin ver­an­stal­ten. Einig waren wir uns aber auch, dass Video aus der Spen­der­kom­mu­ni­ka­ti­on nicht mehr weg­zu­den­ken ist. Die Coro­na-Pan­de­mie hat die Gewöh­nung an die­ses Medi­um beschleu­nigt und sei­ne spe­zi­fi­schen Vor­tei­le ver­deut­licht. Video ver­setzt die Betrachter:innen wirk­sa­mer in die Situa­tio­nen, die wir gemein­sam ange­hen wol­len. Es macht den Kon­takt zu uns Akteu­ren in den Orga­ni­sa­tio­nen leben­di­ger und per­sön­li­cher. Es ent­spricht den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­wohn­hei­ten gegen­wär­ti­ger Genera­tio­nen. Mit Video kom­mu­ni­zie­ren wir deut­lich bes­ser als allein mit gedruck­ten Worten. 

 

 


Anmerkungen

[1] Hin­ter die­ser gro­ßen Zahl steht fol­gen­de Rech­nung: Ein Video von 4 Minu­ten mit einer Frame­ra­te von 30 fps besteht aus 30x60x4 also 7.200 Bil­dern. Wenn nun jedes Bild mit 1.000 Wor­ten auf­ge­wo­gen wird, kommt man auf 7,2 Mio.

Bilder

Titel­bild: “Eye-ris” by Zach Disch­ner is licen­sed under CC BY 2.0

Video: “Video­bro­schü­re für Groß­spen­der vom UNHCR” Sebas­ti­an Carp 2019

Quellen

ARD/ZDF-For­schungs­kom­mis­si­on. 2020. „Key Facts der ARD/ZDF-Online­stu­die“. ARD/ZDF-Online­stu­die. 2020. https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/ardzdf-onlinestudie/infografik/.

Berg, Karen van den, Jan Söff­ner, und Sebas­ti­an Paul. 2020. „zu|Daily — Wohin treibt uns die Bil­der­flut?“ zu-daily.com. 4. Febru­ar 2020. https://www.zu-daily.de/daily/tiefenbohrung/2020/02–04_van-den-berg-soeffner-wohin-treibt-uns-die-bilderflut.php.

Evan­ge­li­sche Lan­des­kir­che in Baden. 2019. Gemein­sam statt ein­sam — Im Dia­ko­nie­Punkt Kon­kor­di­en. https://www.youtube.com/watch?v=26rsgqXaXng.

———. 2020. Klei­ne mit gro­ßen Ideen | Kita Kie­sel­grund in Mann­heim. https://www.youtube.com/watch?v=5UinDKR2C7s.

Früh­beis, Xaver. 2017. „8. Dezem­ber 1921: ‚Ein Blick sagt mehr als 1000 Wor­te‘“. 8. Dezem­ber 2017. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/0812-ein-blick-sagt-mehr-als-1000-worte-102.html.

Gegen­furt­ner, Karl R., Sebas­ti­an Wal­ter, und Doris I. Braun. 2002. „Visu­el­le Ver­ar­bei­tung im Gehirn“. 2002. http://www.allpsych.uni-giessen.de/karl/teach/aka.htm.

Kauf­mann, Sabi­ne. 2018. „For­schung: Spie­gel­neu­ro­nen“. www.planet-wissen.de. 28. August 2018. https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/spiegelneuronen/index.html.

Paul, Ger­hard. 2016. Das visu­el­le Zeit­al­ter. Punkt und Pixel. Bd. 1. Visu­al Histo­ry: Bil­der und Bild­pra­xen in der Geschich­te. Göt­tin­gen: Wall­stein Verlag.

Paul, Ger­hard, und Timo Gram­pes. 2016. „Visu­el­les Zeit­al­ter — Leben in der Dik­ta­tur des Sicht­ba­ren“. Deutsch­land­funk Kul­tur. 30. März 2016. https://www.deutschlandfunkkultur.de/visuelles-zeitalter-leben-in-der-diktatur-des-sichtbaren.2156.de.html?dram:article_id=349722.

Sin­ger, Wolf, und Joa­chim Mül­ler-Jung. 2018. „Was pas­siert, wenn wir das rich­ti­ge Lesen ver­ler­nen?“ FAZ.NET, 13. Okto­ber 2018. https://www.faz.net/1.5833090.

Wiki­pe­dia. 2020. „Pic­tu­re Supe­rio­ri­ty Effect“. In Wiki­pe­dia. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Picture_superiority_effect&oldid=993101773.

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