Das ist eine weithin unbestrittene Fundraising- und Marketingweisheit. Werbemaßnahmen, die Gestaltung von Events etc. sollen sich an den Bedürfnissen, der Sprache und den ästhetischen Präferenzen der Zielgruppen ausrichten. Die persönlichen Vorlieben der verantwortlichen Fundraiser:in und der Entscheidungsträger:innen spielen im Zweifelsfall nur eine untergeordnete Rolle.
Doch die Umsetzung dieses Prinzips ist im Alltag nicht immer problemlos. Bei der Freigabe von Kampagnen und Designs durch Vorstand oder Vorgesetzte kommt es mitunter zu persönlichen Geschmacksurteilen, die mit einem Mal die Arbeit von Wochen und Monaten in Frage stellen. Aber auch Kommunikations- und Fundraisingexpert:innen tappen in die Falle, falls sie bei aller Begeisterung für eine Idee, die Wirkung auf die anzusprechende Zielgruppe aus dem Fokus verlieren.
Ich blicke manchmal leicht abschätzig auf die kleinen Adressaufkleber, die dem einen oder anderen Spendenbrief als Incentive beiliegen: “Wer lässt sich denn davon zum Spenden überzeugen?” Doch offensichtlich gibt es Menschen, für die das ein Anreiz ist.
Viele Fundraisingzielgruppen bewegen sich in anderen Lebenswelten oder sozialen Milieus wie die Fundraiser:innen und Vorstände einer Organisation. Das gilt in jede Richtung. Und damit verbunden sind je eigene ästhetische und kommunikative Präferenzen. Darüber muss ich mir im Klaren sein, wenn ich z.B. als normal verdienender Fundraiser einen Event für vermögende Großspender:innen plane.
Wie gefährlich es ist, von sich auf andere zu schließen, musste eine befreundete Organisation vor einigen Jahren erleben. Da waren Fundraiser und Finanzreferent bei der Planung des neuen Weihnachtsmailings der Überzeugung, “… dass kein Mensch mehr Überweisungsträger im Spendenbrief braucht, schließlich macht man heute Online-Banking”. In der Folge brach das Ergebnis des Spendenbriefs um 40% im Vergleich zum Vorjahr ein. Den Appell und die Hilfe, welche Überweisungsträger für viele Spender:innen darstellen, konnten sie sich aus ihrer Warte nicht vorstellen.
Stellen sich also die grundsätzlichen Fragen, woher der Angler (=Fundraiser:in) weiß, welcher Wurm (=Engagementangebot/Kommunikationsmittel) dem Fisch (=Zielgruppe) schmeckt? Und wie können sich Fundraiser:innen und Entscheidungsträger:innen davor schützen, unwillkürlich von den eigenen auf die Präferenzen anderer zu schließen?
Der false consensus effect bei Marketingentscheidungen
Da helfen die Ergebnisse der 2021 publizierten Studie “Marketers Project Their Personal Preferences onto Consumers: Overcoming the Threat of Egocentric Decision Making” von Walter Herzog, Johannes D. Hattula und Darren W. Dahl (Herzog, Hattula, und Dahl 2021). Die Forscher untersuchten, wie Entscheidungsträger im Marketing den sog. “false consensus effect” (kurz: fce) bei der Vorhersage von Kundenverhalten vermeiden können; also eben die unwillkürliche Übertragung der eigenen Präferenzen auf die der Kunden.
Die Autoren der Studie betonen, dass den meisten Marketeers die Gefahr, dass sie ihre eigenen Präferenzen auf die der anzusprechenden Zielgruppen unwillkürlich übertragen können, bewusst ist (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 456). Deswegen versuchen sie ihre eigene Präferenzen hinsichtlich des zu entwickelnden Marketingkonzepts zu unterdrücken.
Zunächst untersuchten die Forscher, mit welchen Mitteln die Befragten dies zu unterdrücken versuchen. Rund 75% der Marketeers gaben an, dass sie versuchen, rein kognitiv die für sich selbst bevorzugten Konzepte auszublenden. 23,1% gaben an, sich mit anderen Marketingexpertinnen zu beraten. Nur 18,5% zogen Methoden und Informationen der Marktforschung heran. Es gab also eine deutliche Präferenz für die Lösung, die am wenigsten zeitlichen und finanziellen Aufwand erfordert (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 458).
Damit stellte sich die Folgefrage, ob die Strategie, die eigenen Präferenzen gedanklich auszublenden, funktionieren kann. Denn entsprechend der “Ironic process theory” von Daniel Wegner führen bewusste Versuche, bestimmte Gedanken zu unterdrücken, zum genau gegenteiligen Effekt. Durch die Konzentration auf den Gegenstand, an den man nicht denken möchte, wird dieser oft mental präsenter (Wikipedia contributors 2022 ; Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 460f.).
Die Probanden wurden vor Beginn eines zweiten Experiments ausdrücklich auf den den false consensus effect und seine Wirkweise hingewiesen. Es stellte sich in der Folge heraus, dass das Ausblenden der eigenen Präferenzen dann gelingt, wenn die Entscheidungsträger:in sich ihrer eigenen Präferenz sicher und bewusst sind. Diese Gruppe hatte eine 60% niedrigere Fehlerquote bei den Vorhersagen des Kundenverhaltens als diejenigen, die nicht versuchten, ihre Präferenzen zu unterdrücken (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 473).
Je unsicherer jemand hinsichtlich der eigenen Präferenz oder Einstellung zu einem Thema bzw. Produkt war, desto stärker wirkte sich der false consensus effect aus, sofern diese Person versuchte, die eigenen Präferenzen zu unterdrücken. Hier kam es zu einem backfire-Effekt, wie ihn die “Ironic process theory” beschreibt. Die zu unterdrückende Vorstellung wurde dominant. Der false consensus effect ist in diesem Fall sogar größer, als wenn man gar nicht erst versucht, die eigene Präferenz zu unterdrücken (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 467).
Handlungsempfehlungen zur Vermeidung des fce
Die Autoren der Studie empfehlen auf Basis der beschriebenen Ergebnisse zwei konkrete Maßnahmen, um den false consensus effect zu minimieren (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 472):
- Marketeers und Entscheidungsträger:innen sollen vor wichtigen Entscheidungen ausdrücklich über den false consensus effect und andere kognitive Verzerrungen (biases) informiert und gewarnt werden. Die Autoren schlagen gar eine Checkliste mit den gängigsten kognitiven Verzerrungen vor, welche in diesem Zusammenhang herangezogen werden soll.
- Marketeers und Entscheidungsträger:innen sollen dahingehend beraten und fortgebildet werden, alle Versuche zu unterlassen, eigene unsichere oder schwache Präferenzen zu unterdrücken, sobald sie merken, dass dies nicht gelingt bzw. es ins Gegenteil umschlägt (ironic monitoring). Diese Strategie führte in den Versuchen dazu, dass die Fehler bei der Vorhersage des Kundenverhaltens um 54% gegenüber den Personen sanken, die weiter versuchten, ihre unsicheren oder schwachen Überzeugungen zu unterdrücken (Herzog, Hattula, und Dahl 2021, 472).
Beide Empfehlungen setzen m.E. voraus, dass sich Marketeers und Entscheidungsträger:innen zuvor ihrer eigenen Präferenzen vergewissern und bewusst werden. Ggf. sollten sie auch feststellen, dass sie persönlich hinsichtlich der zu treffenden Produkt- oder Designentscheidung unsicher oder indifferent sind. Denn genau in dieser Unsicherheit besteht das größte Risiko, dem false consensus effekt zu erliegen.
Fazit: Erkenne dich selbst
“Der Wurm muss dem Fisch und nicht dem Angler schmecken.” Dieser Satz ist vor dem Hintergrund der beschriebenen Forschungen zum false consensus effect eben auch eine Warnung vor diesem. Diese Fundraising-Weisheit erschöpft sich nicht allein darin, eine Erinnerung daran zu sein, die Bedürfnisse und Interessen der Zielgruppen im Auge zu haben. Sie motiviert uns zu einem zweiten Blick. Denn manches, was wir für die Bedürfnisse und Interessen unserer Spender:innen halten, entpuppt sich als der eigene Wunsch, die ganz eigene Vorstellung. Davor ist niemand gefeit.
Ich bin der Ansicht, dass mit wachsender Berufserfahrung speziell von Marketeers und Fundraiser:innen die Gefahr kleiner wird, dem false consensus effect zu erliegen. Zum einen lernt man sich selbst hinsichtlich der eigenen Präferenzen immer besser kennen. Zum anderen erfährt man über die Präferenzen zumindest der etablierten Zielgruppen von Aktion zu Aktion mehr und mehr. Verschwinden wird die Gefahr des fce aber nie.
Eine bleibende Herausforderung sind board education and training. Vorstände und Entscheider:innen in Vereinen, NPOs und Kirche, welche Marketing- und Fundraisingaktivitäten frei geben und verantworten müssen, haben häufig keinen Fundraising- oder Marketinghintergrund. Doch sie sollten diese Entscheidungen in reflektierter Weise und damit zum Nutzen der von ihnen geführten Organisation fällen. Dazu ist es unerlässlich, die mentalen Mechanismen bei der eigenen Entscheidungsfindung zu kennen. D.h., im richtigen Moment ggf. von den persönlichen Geschmacks- und Sinnurteilen zugunsten des angestrebten Ziels absehen zu können.
Quellen
Herzog, Walter, Johannes D. Hattula, und Darren W. Dahl. 2021. „Marketers Project Their Personal Preferences onto Consumers: Overcoming the Threat of Egocentric Decision Making“. Journal of Marketing Research 58 (3): 456–75. https://doi.org/10.1177/0022243721998378.
Wikipedia contributors. 2022. „Ironic process theory — Wikipedia, The Free Encyclopedia“. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Ironic_process_theory&oldid=1084011865.
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